Over and over again

Kreative, bewegliche, unkonventionelle Menschen beeindrucken mich. Wir wollen und müssen fit für Veränderungen sein und das ist gut so.

Aber, was denken Sie, wenn Sie eine Gruppe von Personen im Business-Outfit auf offener Straße sehen, die gemeinsam den Schlachtruf kreischen: „Ihr seid sexy, wir sind obersexy!“?

5_2005

Tendenz: Over-motivated. Auf dem halben Weg zur geschlossenen Anstalt. Wie Sie wissen, mache ich mir gelegentlich Sorgen um meine persönliche Zeitgeist-Kompatibilität, zumal diese sehr eng mit dem wirtschaftlichen Erfolg verknüpft ist. Ich beobachte also kontinuierlich die Umwelt und frage mich, welchen Entwicklungen ich persönlich folgen müsste, um betriebswirtschaftlich und sozial „im Geschäft“ zu bleiben.

Die oben beschriebene Gruppe ist einem obskuren Ausbildungscenter eines Telefonie-Providers in der Nähe unseres Büros zuzuordnen. Gekennzeichnet durch branchenüblichen Badge, der immer theatralisch um den Hals baumelt, das Band in leuchtender Firmenfarbe. Was ist ein Mensch ohne Badge? Kann er überhaupt von Bedeutung sein? Der Gipfel ist der Formel-1-Badge vom Hockenheimring oder gar aus Monaco. Frauen weist er als autorisierte Boxenluder aus, Männer als mega-mega-wichtig. Es soll Leute geben, die haben drei und mehr Badges. Wow! Ich bin stolz, euch zu kennen. Klarer Fall von over-badged.

Die Gruppe glänzt zusätzlich zu ihrem befremdlichen Verhalten durch gewagte Haarschnitte und coole Anzüge. Der morgendliche Griff in die Anstaltspackung Gel scheint für die Männer Bestandteil der Geschäftsidee zu sein. Over-dressed, over-styled, over-gelt.

Die Trainingsmaßnahmen, die von lauter Anpeitschmusik begleitet werden und in gelegentlichem Kampfgeschrei gipfeln, enden in der Regel mit einem Auftritt der Gruppe auf deren Bürobalkon, wo dann der aufgestaute Adrenalinspiegel mit Zigaretten reguliert wird. Losgelassen sollen Sie vermutlich DSL-XXXL-Anschlüsse an alte Leute verkaufen, damit diese schneller telefonieren können. Die ganze Szenerie ist in meinen Augen over-flüssig.

Kürzlich holte ich mit meiner Kollegin bei einer mir bislang unbekannten Autovermietung einen Mietwagen ab. Schon am Telefon hatte ein Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass sie eigentlich weltweit die Größten seien. Overestimated.

Wir mussten leider in den over-sizedten Geschäftsräumen eine viertel Stunde warten, weil der bestellte Wagen under-verfügbar war. Over-booked. In den 15 Minuten Anwesenheit fragten uns mindestens fünf Mitarbeiter – übrigens ebenfalls stark over-dressed – unabhängig voneinander mit dem gleichen Wortlaut, ob wir ein warmes oder kaltes Getränk haben möchten. Klarer Fall von over-trained. Ich wollte nur das bestellte Auto und kam mir in Sachen Getränke over-serviced vor.

Mit Kreativität und mentaler Beweglichkeit oder gar erfrischender Individualität hat dieses sektenähnliche Konformitätsverhalten nichts zu tun. Hat die Chefs und Trainer dieser Jünger denn jegliches Vertrauen in bewährte europäische Umgangsformen verlassen?

Glosse_Pfeil

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