Perfektion und Leidensfähigkeit

Selbst mit zwanzig Jahren Berufserfahrung komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Immer wieder stelle ich fest, dass die Perfektions­aura, mit der sich die IT-Industrie umgibt, mit der bodenständigen Umsetzung in der Praxis nichts zu tun hat. Weit verbreitet ist das Vorurteil, dass es kleineren und mittleren Unternehmen nicht gelingt, eine vielversprechende Technologie in Szene zu setzen. Ich aber wundere mich um so häufiger über die Diskrepanz von Theorie und Praxis, je größer die Unternehmen und Dienstleister sind. Über skurrile Benutzerschnittstellen möchte ich an dieser Stelle gar nicht sprechen, subjektive Beurteilungen liegen zu nahe. Desolaten Installationsroutinen von Herstellern aller Größenordnung stellen wir uns mit sportlichem Ehrgeiz, selbst wenn sich diese am Rande der Unverschämtheit bewegen. Jedoch eine Kleinigkeit im Vergleich zu den Abgründen, die sich in vielen IT-Bereichen auftun.

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Glücklicherweise ist die Leidensfähigkeit aller Beteiligten fast grenzenlos. Kürzlich habe ich einen Bankberater bei der Arbeit mit seinen Beratungsprogrammen beobachtet. Es interessierte mich deshalb, weil ich weiß, dass die Software viele Millionen von Euros gekostet hat. Es war bemerkenswert, wie beharrlich das Produkt, neben anderen kleinen Misslichkeiten, Optionen ausdruckte, die vor­her mehrfach abgewählt wurden. Der Kunde ging mit modern anmutenden Ausdrucken einschließlich handschriftlicher Korrekturen nach Hause. Das soll wohl die menschliche Komponente im Bankgeschäft unterstreichen. Nun – mich wundert es nicht, dass stundenlange Ausfälle von Geldautomaten bei Software-Updates schon fast zur Tagesordnung gehören.

Noch etwas zum sportlichen Ehrgeiz. Die FIFA bereitet sich derzeit offenbar mit Unterstützung des Internet-Giganten Yahoo auf die WM 2006 vor. Dazu gehört der Konföderations-Cup im nächsten Sommer, bei dem alles vorab in „kleinem Rahmen” getestet werden kann, unter anderem das Ticketing-System. Mein Urteil zur Generalprobe: Hübsch anzusehen, funktional voll daneben. Beindruckend ist lediglich, dass jeder zweite Satz mit dem Trademark-Zeichen versehen ist. Vermutlich dürfen wir bald nicht mehr „Guten Morgen” sagen, ohne an Herrn Blatter Lizenzgebühren zu zahlen. Die Technik: Der Server ist so gut wie nie erreichbar, und wenn, dann bricht er den Buchungsvorgang mit wilden Fehlermeldungen ab. Wie ein Wunder werden trotzdem obskure Bestätigungen versandt, die jedoch nichts darüber aussagen, ob und welche Bestellungen tatsächlich gelungen sind. Tolle FIFA, super Yahoo.

Das erinnert ein wenig an die früheren Jahre der Lotusphere, als noch 10.000 Leute nach Orlando pilgern wollten und das System durch die Anmeldungen in den ersten Stunden heillos überlastet war. Trotz allem: Viel Spaß bei der WM!

Vielleicht liegt die fragliche Qualität von einigen Software-An­wen­dun­gen daran, dass – wie ich kürzlich in einer Studie gelesen habe – nur zwölf Prozent der Bevölkerung Lust haben, zur Arbeit zu gehen. Man stelle sich das in einer Textaufgabe vor: Bei Yahoo arbeiten 100 Leute und programmieren eine Website für Herrn Blatter, den Gottvater des Fußballs. Von den 100 Programmierern haben 88 keine Lust zum Arbeiten. Welche Auswirkung hat das auf die Funktionalität der Website? Ist dann nicht schon viel erreicht, wenn man überhaupt versuchen kann, ein Ticket zu ordern? Seitdem ich diese Studie gelesen habe, bin ich immer am Rechnen, wenn ich in Kundenmeetings sitze. Falls ich zu diesem Zeitpunkt Lust zum Arbeiten habe, sind die zwölf Prozent bereits ausgeschöpft. Ich muss statistisch davon ausgehen, dass meine Gesprächspartner eigentlich „keinen Bock” haben. Wie sollen wir da den Wirtschaftsaufschwung schaffen?

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