Renaissance des Surrealismus

Für uns Normalbürger ist es schwer, das Treiben der „Großen“ angemessen zu bewerten. Was bedeuten 30 Milliarden US-Dollar Verschuldung für ein Unternehmen wie Worldcom, 15 Millionen Euro Abfindung für Ron Sommer oder Spenden eines Rüstungslobbyisten an deutsche Politiker in Höhe von 500.000 Euro? Täglich werden wir aus den Nachrichten mit neuen, ungreifbaren Zahlen konfrontiert, bei denen die Nullen im Mittelpunkt stehen. Es gelingt mir leider nicht, diese Unsummen mit meinem beruflichen und persön­lichen Alltag in Einklang zu bringen.

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Versuchsweise helfe ich mir mit kleinen Rechenexempeln. Bei der Worldcom-Insolvenz zum Beispiel ist die Deutsche Bank laut Presse­angaben mit etwa einer Milliarde Euro betroffen. Wollten die Bundesbürger die Deutschen Bank aus nationalem Mitleid in dieser misslichen Lage unterstützen (rein hypothetisch), dann müsste jeder der rund 82 Millionen Bundesbürger schlappe 12,20 Euro zahlen – ich persönlich wäre als Familienvater mit 61 Euro betroffen. Gerechter wäre es, nur die Erwerbstätigen zur Spende zu bitten. Dann käme mein Beitrag auf etwa 32 Euro. Und Ronnis Abfindung bedeutet gerade einmal ein Ortsgespräch pro Bundesbürger. Das ist doch der Rede gar nicht wert. So gesehen ist alles nur halb so schlimm. Allerdings dürften sich solche kollektiven Spendenaufrufe nicht stark häufen.

Einen anderen, technischen Surrealismus habe ich zum wiederholten Mal während meines Urlaubs auf dem Campingplatz beobachtet. Fern von der Heimat kann eine Normalfamilie vermeintlich nur mit zwei bis vier Handys, einem Notebook, einer Digitalkamera, ein bis zwei MiniDisc-Playern oder vergleichbarem Instrumentarium überleben. Selbstverständlich verfügen all diese Dinge über ein proprietäres Ladegerät. Da nicht jeder einzelne Standplatz mit Strom versorgt wird, treibt das Laden des unverzichtbaren Technik-Equipments bunte Blüten.

Der begehrte Strom ist sinnvollerweise im Waschhaus verfügbar. Anfänger schließen dort einfach ihre Geräte an und legen sich anschließend in die Hängematte. Das spart das Abholen. Die Sachen sind nach kurzer Zeit ohnehin weg. Profis kennen die nahezu perfekte Sicherungsmaßnahme: Alle Geräte werden an eine Zehnfachsteckdose gehängt und in eine große abschließbare Alukiste gelegt. Nur das Kabel der Steckdose ragt heraus und wird im Waschhaus angeschlossen. (Tipp: Von einer aufgeklebten Stückliste ist abzusehen.) Die Kiste selbst ist mit einem soliden Fahrradschloss am Abflussrohr befestigt. Dabei können nur noch zwei Dinge „dumm laufen“: Ein netter Camper zieht den Stecker oder im Waschhaus fliegt die Sicherung raus.

Zurück zur Welt der „Großen“. In wenigen Wochen sind Bundestagswahlen. Bis dahin kann der eine oder andere Politiker durchaus noch an der
Dopingkontrolle scheitern oder mit privat verflogenen Lufthansa-Meilen abstürzen. Für Stoiber und Spaßpolitiker Westerwelle bleibt genug Zeit, gemeinsam die absolute Steuerbefreiung bei gleichzeitig freier Kost und Logis in bayerischen Hotels zu versprechen. Mög­licherweise wechseln Ebbers und Sommer in der Zeitung auf die Sportseite, denn hier stehen Höchstleistungen in allen Disziplinen. Und wir fragen uns weiter: Was ist eigentlich real, was ist surreal – und was ist einfach nur Spaß?!

Nachtrag, November  2008: Der scherzhafte Vorschlag verzockte Milliarden durch Bürgerspenden auszugleichen hat uns inzwischen eingeholt, auch wenn es nicht über freiwillige Spenden, sondern indirekt über Steuern und Sparmaßnahmen bei regulären staatlichen Aufgaben läuft.

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