Verdirbt Geld die guten Sitten?

Auch auf die Gefahr, dass ich vom Satiriker zum alternden, missmutigen Sittenwächter mutiere, möchte ich heute weniger auf witzige Ereignisse in unserem Umfeld eingehen, sondern vielmehr ärgerliche Begleiterscheinungen beschreiben. Eine davon sind die horrenden Budgets in der IT-Branche, die für allerlei Unsitten sorgen.

Die erste Unsitten-Disziplin heißt:

Lautes Auftreten mit gigantischem Budget.

Während die Produkte eines in der Branche bestens kannten Software-Unternehmens trotz der vielen Beacon Awards noch ihre Qualität unter Beweis stellen muss (man munkelt bereits von Perfor­mance-Problemen), verhilft ein horrend hohes Marketingbudget zu eindrucksvollen Auftritten. Der geballte “Was-kostet-die-Welt Auftritt” lässt aber nicht nur staunende Claqueure zurück, sondern auch mehr und mehr Kritiker. In ihrer Kluft, die mich an die Münchner schwarzen Sheriffs mit zweifelhaftem Ruf erinnert, glänzten Mitarbeiter dieses Unternehmens in Berlin und in Orlando durch lautes, arrogantes Auftreten. Es lag jenseits der Toleranzschwelle für skandinavische Trinkgewohnheiten.

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Mit Endkunden wollen sie, so wurde mir in Berlin erklärt, nichts zu tun haben. Man beschränkt sich auf das Geschäft mit Business-Partnern. Eine Vertriebsmitarbeiterin schickte mir vor einigen Wochen eine etwas rüde Email, in der sie sich über meine Nicht-Erreichbarkeit als Kunde beschwerte. Es klang, als ob wir verpflichtet seien, die besagte Software zu kaufen und nun endlich mal den Auftrag erteilen sollten. Mir war kurzfristig unklar, wer hier eigentlich von wem etwas will.

Die zweite Unsitten-Disziplin heißt: Headhunting

In der Szene kursieren Gerüchte über in meinen Augen exorbitante Gehälter für Lotus Notes-Entwickler, mit denen gute und weniger gute Leute von ihren Arbeitgebern weggelockt werden sollen. Es ist hinlänglich bekannt, dass diese Spezies zwar nicht vom Aussterben bedroht, aber doch nicht in ausreichender Zahl verfügbar ist. Man sollte jedoch über diese Tragik nicht jegliches Maß verlieren, zumal mir unklar ist, wie Leute zu diesen Gehältern dauerhaft finanziert werden sollen. Vielleicht kommen wir mittelfristig auch zu einer Draft-Regelung ähnlich der, die im nordamerikanischen Profisport gilt. Denn dort werden die Mitarbeiter gar nicht mehr gefragt, wohin sie verschachert werden wollen.

Die dritte Unsitten-Disziplin heißt: Fusionitis. Eine in der gesamten Wirtschaft grassierende Krankheit, die Fusionitis, ist ein weiterer Unruhefaktor in der IT-Szene. Wenn ein Unternehmen in unserer Branche heute nicht mindestens ein halbes Dutzend Fusions- oder Übernahmeangebote auf dem Tisch liegen hat, müssen sich die Gesellschafter fragen, wie das Unternehmen diese Aschenputtel-Rolle verdient hat. Vordergründig wird landauf, landab mit wirtschaftlichen Notwendigkeiten für diese Fusionen argumentiert, Analysten wiederum weisen darauf hin, dass die Mehrzahl der Fusionen und Übernahmen nicht den erwünschten Effekt brachten. Altbundeskanzler Helmut Schmidt äußerte kürzlich sehr erbost die Einschätzung, dass dabei lediglich Unternehmens­eigner hinter großen Sprüchen Kasse machen möchten. Dies ist äußert bedenklich, da gerade in unserer Branche primär Menschen fusioniert und übernommen werden, nicht aber Produktionsstraßen.

Denen, die Kasse gemacht haben, gönne ich trotzdem ein weises Schmunzeln.

Bis zum nächsten Mal, Ihr manchmal ärgerlicher Jörg Allmann

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